Stillen im Land von Dschinghis Khan

Eine Stillgeschichte von Ruth Kamnitzer aus dem Jahr 2009

Übersetzt von Natascha Ninghetto, Dezember 2021


In der Mongolei gibt es ein oft zitiertes Sprichwort, dass die besten Wrestler für mindestens 6 Jahre gestillt wurden – eine starke Aussage eines Landes, in welchem Wrestling der Nationalsport ist. Ich zog in die Mongolei, als mein erstes Kind vier Monate alt war und lebte dort, bis er dreijährig war.

Meinen Sohn in diesen ersten Jahren in einem Land grosszuziehen, in welchem die Einstellung zum Thema Stillen dermassen anders ist als in Nordamerika, eröffnete mir einen gänzlich anderen Blickwinkel dazu, wie es sein könnte.

Die Mongolen stillen nicht nur für eine lange Zeit, sie machen dies mit sehr viel mehr Enthusiasmus und viel weniger Hemmungen als alle, die ich bisher kennenlernte. In der Mongolei ist Muttermilch nicht nur für Babys, geht es nicht nur um die Ernährung und es ist definitiv nichts, worüber man diskret ist. Es ist der Stoff, aus dem Dschingis Khan gemacht wurde.

Wie viele Mamas, welche ihr erstes Kind erwarten, machte ich mir vor der Geburt nicht viele Gedanken bezüglich des Stillens. Als dann jedoch mein Sohn Calum, wenige Minuten nach der Geburt an die Brust andockte, war er fest entschlossen, diese für die nächsten 4 Jahre nicht mehr loszulassen.

Ich hatte Glück, da das Stillen in vielen Aspekten einfach war, keine verletzen Brustwarzen, selten eine geschwollene Brust. Mental war es aber nicht so einfach. Sosehr ich mein Baby auch liebte und die Verbindungen, die das Stillen uns gab, waren da doch Zeiten, wo ich überfordert war.

Ich war unvorbereitet auf meine überwältigende Liebe für mein Kind und über die Intensität seines Bedürfnis nach mir und nur mir – für meine Milch. „Lass dich nicht als einen menschlichen Schnuller verwenden“, warnte mich eine kanadische Krankenpflegerin wenige Tage nach Calums Geburt, da er Stunde um Stunde an meiner Brust war. Ich machte mir tausend Gedanken, warum er wohl weinte - drückt ein Pups? Muss er Pinkeln? Ist er nicht genug stimuliert? Ist er reizüberflutet? – und am Ende stillte ich ihn einfach wieder. Ich fragte mich, ob ich alles richtig machte.

Dann zog ich weg von Kanada, in die Mongolei, wo mein Mann eine Wildtier-Studie durchführte. Hier werden die Babys konstant in mehrere Lagen dicker Decken gewickelt, und fest geschnürt wie ein Paket, welches via Post versendet wird und nicht auseinander fallen darf. Wenn eines der Pakete murmelt, wird es direkt an die Brust angedockt.

Die Babys werden selten gewickelt und machen kein Bäuerchen. Es gibt keine fuchtelnden Patschhändchen, in welche man eine Rassel drückt. Die Babys bleiben die ersten drei Monate so eingewickelt und wann immer sie einen Pieps von sich geben, werden sie gestillt.

Das fand ich interessant. Mit drei Monaten haben kanadische Babys schon soziale Treffen, sogar Babyschwimmen. Einige lernen „Selbstregulierung“. Ich ging davon aus, dass es viele verschiedene Gründe gibt, warum ein Baby weint und dass es meine Aufgabe ist, herauszufinden was los ist und entsprechende Lösungen zu präsentieren. Aber in der Mongolei, auch wenn die Babys wegen unterschiedlichen Gründen weinen, gibt es nur eine Lösung: Muttermilch! Und ich folgte diesem Flow.

 

Eine arbeitende Brust ist unterwegs

In Kanada umgibt das Stillen immer noch etwas mystisches. Aber in Wahrheit sind wir es einfach nicht gewohnt. Stillen passiert zu Hause, in Baby-Gruppen, gelegentlich in Cafés – aber man sieht es selten in der Öffentlichkeit, und wir haben definitiv keine bewussten Erinnerungen daran, selbst gestillt worden zu sein. Diese private Tätigkeit zwischen Mutter und Kind wird mit Schweigen und höflich gesenktem Blick begrüsst und wird ähnlich behandelt, wie öffentliche Liebesbekundungen zwischen einem Paar: nicht Tabu, aber doch ein wenig unangenehm und höflich ignoriert. Und wenn das stille, engelsgleiche Neugeborene zu einem aktiven Kleinkind wächst, welches die ganze Welt darüber informiert, was es gerade macht, dann werden die Blicke schneller und bewusster abgewendet, oft mit einem Stirnrunzeln.

In der Mongolei, anstatt mich in eine „nur Mütter“-Sektion zu verbannen, hatte mich das öffentliche Stillen in den Mittelpunkt gebracht. Die allgemeine Haltung, jederzeit zu stillen und den Umstand, dass die meisten Mongolen eng zusammenleben, bedeutete, dass jeder den Anblick einer arbeitenden Brust kannte. Und sie waren glücklich zu sehen, dass ich es auf ihre Weise machte (welche natürlich die Richtige ist).

Wenn ich in einem Park stillte, kamen die Grossmütter zu mir und verwöhnten mich mit Erzählungen über die dutzenden Kinder, die sie gestillt hatten. Wenn ich in einem Taxi stillte, bekam ich von den Fahrern das Daumenhoch und sie versicherten mir, dass Calum ein grossartiger Wrestler werden würde.

 Wenn ich mit meinem stillenden Sohn in den Armen durch die Märkte lief, machten die Verkäufer Platz für mich bei ihren Ständen und sagten ihm, dass er in Ruhe fertig trinken soll. Anstatt wegzuschauen, gaben die Leute ihm Küsschen auf die Wange. Und wenn er als Reaktion die Brust losliess, um die Leute anzustrahlen, wurde über den Anblick meiner freigelegten Brust keine Miene verzogen. Niemand starrte oder schaute weg – alle lachten und putzen die angespritzte Milch von der Nase.

Egal wohin ich ging hörte ich das Gleiche wieder und wieder: Stillen ist das Beste für dein Baby, das Beste für dich. Diese konstante Bestätigung gab mir das Gefühl, dass ich etwas Grossartiges machte und dass für alle wichtig ist – genau die Art von öffentlichem Applaus, welchen jede neue Mutter braucht.

 

Die Geheimwaffe der faulen Mutter

Als Calum im zweiten Lebensjahr war, realisierte ich im ganzen Ausmass, wie nützlich stillen sein kann. Nichts brachte ein Kind schneller zum Einschlafen, half gegen Langeweile auf langen Autofahrten oder beruhigte einen anbrechenden Sturm, als ein klein wenig warme Milch von Mama. Es ist die hilfreichste Erziehungshilfe der faulen Mama, und bis dahin dachte ich, dass ich diese bis zum Maximum ausschöpfte. Doch die Mongolen gingen noch einen Schritt weiter.

Während den mongolischen Wintern verbrachte ich viele Nachmittage Zuhause bei meiner Freundin Tsetsgee, um der eisigen Kälte zu entkommen. Es war aufschlussreich, die verschiedenen Erziehungsstile zu vergleichen.

Wann immer sich zwischen unseren beiden Zweijährigen eine Rauferei über die Spielsachen aufbaute war meine erste Reaktion, den Frieden zu bewahren, indem ich Calum mit einem anderen Spielzeug ablenkte und die Prinzipien des Teilens erklärte. Das dauerte aber immer eine Weile und hatte eine Erfolgsquote von 50 Prozent. Die anderen 50 Prozent, wenn Calum nicht bereit war zurückzutreten und seine Frustration kurz vor dem explodieren war, nahm ich ihn in die Arme und stillte ihn.

Tsetsgee hatte einen anderen Ansatz. Beim ersten Murmeln der Zwietracht lupfte sie ihr Oberteil, wackelte enthusiastisch mit den Brüsten und sagte: Komm mein Schatz, schau was Mama hier für dich hat. Ihr Sohn wandte den Blick von den Spielsachen zu den Zielscheiben auf den Brüsten seiner Mama zu und watschelte direkt zu ihr hin.

Erfolgsquote? 100 Prozent.

Um nicht übertroffen zu werden, fing ich mit der gleichen Strategie an. Nun waren da zwei Mamas, die ihre Brüste wackelten, wie konkurrierende Stripperinnen, die einen Kunden anlocken wollen.

Wenn die Grosseltern da waren, machten die beim Spiel mit. Die Kinder wussten gar nicht mehr, wohin schauen – zur beruhigenden und bekannten Brust der eigenen Mama, zu Omas verwelkter Pfannkuchen mit langjähriger Erfahrung, oder zu den flachen Brüstchen, die der Opa in den Brüste-wettbewerb einbrachte. Egal wie fest ich mich anstrengte, ich konnte mir keine ähnliche Situation bei einem La Leche League Stilltreffen vorstellen.

 

Wenn sie laufen und sprechen… und ihre Schulprüfungen ablegen?

In einer Kleinstadt in Kanada, wo Calum geboren wurde, besuchte ich einen Schwangerschafts-vorbereitungskurs. Stillen wurde dabei mit einem Video vorgestellt von einer sportlichen schwedischen Mama, welche ihr Kleinkind während einer Pause beim Skifahren stillte. Ein Schauder ging durch die Gruppe: «Stillen ist toll für Babys, aber wenn sie laufen und sprechen können…?» Das war so die allgemeine Haltung. Ich behielt meine Meinung für mich.

Ich war dann meinerseits überrascht, als eine neue mongolische Freundin mich informierte, dass sie bis neun gestillt wurde. Ich war zuerst dermassen verblüfft, dass ich es als Witz abtat. Wenn ich nun überlege, dass ich meinen Sohn kurz nach seinem vierten Geburtstag abstillte, schäme ich mich ein wenig für meinen Unglaube. Auch wenn mit neun Jahren eher alt ist zum Stillen, auch für den mongolischen Massstab, so ist es doch nicht abwegig.

Es war nicht immer ganz einfach, das Konzept des vom Kind-geführten Abstillens mit den Mongolen aufgrund sprachlicher Differenzen zu besprechen, was ich aber verstand, ist, dass das durchschnittliche Abstillalter in der Mongolei der allgemeinen Norm entspricht. Ich habe niemanden kennengelernt, der Tandem-Stillte, was mich ein wenig überraschte. Doch das lag daran, dass der Abstand zwischen den Kindern relativ lang war, und sich die meisten Kinder zwischen zwei und vier Jahren selber abstillten.

In 2005, gemäss UNICEF, wurden 82 Prozent der 12 bis 15 monatigen Kinder in der Mongolei gestillt. Bei den 20 bis 23 monatigen waren es 65 Prozent. Das letzte Kind stillte dann meistens einfach so lange es wollte, daher gibt es das neunjährige Stillkind und, wenn die Volksweisheit stimmt, dass die Mongolei für Wrestling wegen der langen Stilldauer bekannt ist.

Da der dreijährige Calum nach wie vor mit demselben Enthusiasmus eines Neugeborenen stillte und ich mich fragte, wie das Abstillen von statten gehen wird, war ich neugierig was die mongolischen Kinder zum Abstillen bewegt.

Einige Mütter sagten, ihr Kind habe einfach das Interesse verloren. Andere sagten, dass der Druck von den Altersgenossen eine Rolle spielt. (Ich habe gehört, wie mongolische Teenager sich necken mit «Du möchtest an die Brust von deiner Mama», auf die gleiche Weise wie kanadische Kinder «Heulsuse» sagen).

Immer öfter zwingen auch Arbeitsverpflichtungen zu einem früheren Abstillen; die Kinder verbringen den Sommer in den ländlicheren Regionen, während die Mütter in der Stadt bleiben zum Arbeiten und während dieser langen Trennung versiegt die Milch. Meine Freundin Buana, jetzt 20, erklärte mir ihre Gold-Medaille Stillkarriere: «Ich wuchs in einer ländlichen Region auf, weit weg von anderen Familien. Meine Mutter sagte immer, ich solle genug trinken, dass das gut für mich ist. Ich ging davon aus, dass alle neunjährige das so machen. Erst als ich in die Schule ging, hörte ich mit stillen auf.» Sie schaute mich mit einem schelmischen Funkeln in den Augen an. «Aber ich trinke immer noch gerne Muttermilch».


Bitte gib mir die Milch

Für mich war das Abstillen an der Brust ein definierter Punkt. Ich ging davon aus, dass zu einem Zeitpunkt die Stillmahlzeiten immer weniger werden, und sich ausschleichen bis sie ganz ausbleiben. Meine Milch würde versiegen und das wäre das Ende – Bar geschlossen.

In der Mongolei wird es anders gehandhabt. Ich habe mit meiner Freundin Naraa über das Stillen geredet und fragte sie, wann ihre Tochter, welche da sechs Jahre alt war, sich abgestillt hatte. «Mit vier» antwortete sie. «Ich war traurig, aber sie wollte nicht mehr stillen.»

Dann erzählte mir Naraa, dass aber in der vorherigen Woche, als ihre Tochter nach längerer Abwesenheit von bei den Grosseltern nach Hause kam, stillen wollte und sie, Naraa, dies akzeptierte. «Ich denke, sie hatte mich sehr fest vermisst,» sagte sie, «und es war schön und innig. Ich hatte natürlich keine Milch mehr, aber das hatte sie nicht gestört.»

Wenn abgestillt bedeutet, keine Muttermilch mehr zu trinken, dann sind die Mongolen nie richtig abgestillt – und das war das, was mich zum Thema Stillen in der Mongolei am meisten überraschte. Wenn von einer Frau die Brüste prall gefüllt sind und ihr Baby nicht in der Nähe ist, fragt sie die Familienmitglieder, egal von welchem Alter oder Geschlecht, ob sie ein Glas Milch möchten. Oft streichen die Frauen auch eine Schüssel voll aus für ihre Männer als eine Leckerei oder lassen die Milch im Kühlschrank, wo sich jeder bedienen kann.

Viele von uns haben die eigene Muttermilch gekostet oder dem Partner/der Partnerin zum Probieren gegeben, vielleicht im Notfall auch mal für den Kaffee verwendet, jedoch glaube ich nicht, dass wir wirklich viel davon getrunken haben.

Aber jede Mongolin und jeder Mongole, die ich gefragt habe, haben mir gesagt, dass sie gerne Muttermilch trinken. Der Wert von Muttermilch ist dermassen zelebriert, fest in der Kultur verwurzelt, dass diese nicht nur für Babys ist. Muttermilch wird auch oft medizinisch verwendet, wird von den Älteren als Heilmittel für alles gegeben und bei Augeninfektionen verwendet, wie auch (angeblich) um das Weiss der Augen weisser und das Braun der Iris dunkler zu machen.

Ich denke, am meisten trinken die Mongolen Muttermilch, weil sie den Geschmack mögen. Eine Freundin aus der westlichen Region, welche bei der Arbeit Milch gepumpt hatte und eines Tages mal eine Flasche halbleer im Kühlschrank fand, lachte und sagte «Nur in der Mongolei würde ich jemand auf der Arbeit verdächtigen, meine Muttermilch zu trinken!».

In einer anderen Kultur zu Leben zwingt dich, deine eigene Kultur zu reevaluieren. Ich weiss wirklich nicht, wie es gewesen wäre, meinen Sohn in seinen frühsten Jahren in Kanada zu stillen. Die Lawine von positiven Rückmeldungen und Erfahrungen, welche ich auf mein Stillen in der Mongolei erfahren hatte und die absolute Akzeptanz des Stillens in der Öffentlichkeit hat mich sehr erstaunt und gab mir die Freiheit mein Kind so grosszuziehen, wie es sich für mich natürlich anfühlte. Ich habe aber das Gefühl, nicht nur wegen den kleinen Unterschieden bei der Stillnorm, den Details, wie lange und wie oft man stillt, dass es eine viel grössere Kluft zwischen unseren Erziehungsstilen gibt.

In Nordamerika werten wir Unabhängigkeit dermassen hoch, dass sie über allem steht. Das ganze Gerede darüber, was dein Baby isst und auf wie viele Stillmahlzeiten man jetzt kommt. Auch wenn du nicht die Person bist, die die Fragen stellt, ist es doch schwierig, ihren Auswirkungen zu entkommen. Es gibt so viele Dinge zum Kaufen, welche dein Kind unterhalten sollen und damit es dich weniger braucht, dass die Nachricht klar ist.

Aber in der Mongolei wird stillen nicht mit Abhängigkeit verbunden, und abstillen ist keine Ziellinie. Sie wissen: ihre Kinder werden gross werden – und tatsächlich sind die durchschnittlichen fünfjährigen Mongolinnen und Mongolen viel unabhängiger als ihre westlichen Altersgenossen, gestillt oder nicht. Es gibt keinen Druck zum abstillen.

Vermutlich der wichtigste Punkt, den ich lernte, als ich meinen Sohn in der Mongolei grosszog war, die Erkenntnis, dass es eine Million verschiedene Wege gibt, und dass ich aus allen Möglichkeiten selber entscheiden kann. Während meiner Stillkarriere mit meinem Sohn hatte ich verschiedene Probleme, und versuchte verschiedene Ideen und Praktiken, in der Suche nach meinem eigenen Stil. Ich bin froh, dass ich Calum so lange und so oft gestillt habe, schlussendlich 4 Jahre lang. Ich denke, Stillen war das Beste für meinen Sohn und wird einen langanhaltenden Einfluss auf seine Persönlichkeit und unsere Beziehung haben.

Und wenn er mal die Goldmedaille im Wrestling holt, erwarte ich, dass er sich bei mir bedankt.

Artikel in englischer Sprache: www.naturalchild.org/articles/guest/ruth_kamnitzer.html


Danksagung / Note of thanks:

Dear Ruth,

Thank you so much for allowing me to translate your words. Even after reading your article many times, every time I read it again I enjoy it. I am in awe to learn about how different the breastfeeding journey for women could be if the society would be more tolerant and supporting, and accepting breastfeeding for what it is: just natural.

Thank you,

Natascha


Das Foto ist von Fotografin Katie Kuuskler aus dem Jahr 2018. Webseite der Fotografin: www.katiekk.com

"Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht."

afrikanisches Sprichwort